Eindrücke von der Feuersteintagung 2017 – „Speeddating mit Hauptgewinn“

Begrüßt wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der diesjährigen Feuersteintagung 2017 von Filmausschnitten eines Tanzprojektes des Pfalzinstituts Frankenthal mit dem Pfalztheater Kaiserslautern, das verdeutlichte welche Bedeutung die Freude am gemeinsamen Musizieren und Tanzen auch im Leben von Kindern mit Hörbehinderung haben kann.

Nach der offiziellen Begrüßung durch die BDH Bundesvorsitzende, Susanne Keppner läutet der sehr informative, umfassende und unterhaltsame Vortrag von Herrn Prof. Dr. Fuchs vom Universitäts-Klinikum in Leipzig inhaltlich die diesjährige Feuersteintagung ein. Er spricht zum Thema der physiologischen Aspekte der kindlichen Hörentwicklung. Neben der Anatomie des Hörens beschäftigt er sich auch mit der Häufigkeit der unterschiedlichen Hörschädigungen im Kindesalter, der Ermittlung des kindlichen Hörvermögens und zum Abschluss mit dem Unterschied zwischen kindlichen Hörreaktionen und der Ermittlung der Hörschwelle im Zusammenhang mit einer Hörgeräteversorgung und -anpassung im jungen Kindesalter.

Anschließend geht der Vortrag von Prof. Dr. Hennies von der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg von der Erklärung der UN-Behindertenrechtskonvention und deren Ratifizierung durch die Bundesrepublik Deutschland aus, um sich mit der Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Hörbehinderung an der allgemeinen Schule zu beschäftigen. Er führt zunächst die unzureichende Nutzung der frühen Phase der kindlichen Entwicklung durch eine umfassend qualifizierte sonderpädagogische Frühförderung aus. Die, aufgrund des Neugeborenen-Screenings, gewonnene Zeit von der Diagnosestellung kindlicher Hörschädigungen bis zum Abschluss der Sprachentwicklung wird aus seiner Sicht noch immer nicht ausreichend genutzt. Im Rahmen der Ausbildung von Sonderpädagoginnen und -pädagogen liege der Fokus nach wie vor auf der schulischen Bildung und lasse die Frühförderung weitestgehend außen vor, obwohl dieser Bereich wesentlich wichtiger sei und effektiver nutzbar wäre. Erfreulicherweise diversifizierten die Beratungsstellen mittlerweile ihr Angebot in diesem Bereich im Hinblick auf den Einsatz von Gebärdensprache. Zum Abschluss stellte er das Pilotprojekt einer bimodal-bilingualen Gruppenlösung zur Beschulung von Kindern mit Hörbehinderung vor, dass in diesem Schuljahr in Erfurt gestartet ist und von der PH Heidelberg wissenschaftlich begleitet wird.

Frau Prof. Becker von der Humboldt-Universität und Frau Hoffmann von der Ernst-Adolf-Eschke-Schule in Berlin stellen das Projekt des „Lese-Treffs“ zur Leseförderung von Schülerinnen und Schülern mit Hörbehinderung im Sekundarbereich vor. Es wird seit drei Jahren an der Eschke-Schule einmal jährlich in Kooperation mit Studierenden durchgeführt. Fußend auf der Erkenntnis, dass neben der kognitiven Dimension auch die motivationale Dimension sowie die Reflexion und Anschlusskommunikation entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Lesevermögens haben wird an der Eschke-Schule in festgelegten Jahrgangsstufen ein umschriebenes Lese-Projekt durchgeführt, dass in 6 bis 8 Sitzungen neben einem kurzen Teil der strukturierten Leseförderung eine Phase des freien Lesens beinhaltet. Die Jugendlichen werden von Studierenden in einer 1:1-Situation begleitet und unterstützt. Sowohl den Lesestoff als auch den Leseort dürfen die Lernenden dabei frei wählen. Von großer Bedeutung sehen die beiden Vortragenden dabei vor allem, dass alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse an dem Projekt teilnehmen, dass feste Zeiten und Rhythmen vorgegeben sind und dass klar ist, in welchen Klassenstufen das Projekt durchgeführt wird. Zeiten und Rhythmen vortn Vortrieauf die Entwicklung Im Rahmen des laufenden Projektes finden die Studierenden gemeinsam mit den Lernenden sehr individuelle Lösungen, um die freie Lesezeit gewinnbringend zu gestalten. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Loslösung vom regulären Unterricht, vor allem auch, um den motivationalen Aspekt zu stärken.

Frau Dr. Jooss vom Frühinterventionszentrum (FRIZ) in Heidelberg stellt anschließend das Förderkonzept der alltagsintegrierten Sprachförderung vor, das sich überwiegend an pädagogisches Fachpersonal richtet. Zentrale Aspekte des Heidelberger Interventionstrainings (HIT) sind das Sprachvorbild, diverse Modellierungstechniken, der Einsatz gezielter Fragen sowie eine sprachförderliche Grundhaltung und ein spezifischer Umgang mit kindlichen Sprechfehlern. Dies alles soll pädagogische Fachkräfte in die Lage versetzen Kindern einen gezielten sprachlichen Input anzubieten. Das videogestützte Training soll eine Erhöhung des Fachwissens sowie einen Kompetenzzuwachs bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zur Folge haben.

Dr. Seimer (Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie und Landesarzt für Hör- und Sprachbehinderte) aus Stuttgart spricht zur Diagnostik und Therapie von Auditiven Wahrnehmungsstörungen (AWS). Zunächst macht er deutlich, dass im Fall der auditiven Wahrnehmungsstörungen eine Abgrenzung zu anderen Störungsbildern wie Hyperakusis, Dysakusis, aber natürlich auch umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen oder einer Lese-Rechtschreibschwäche notwendig ist. Gleichzeitig stellt sich die eindeutige Diagnostik als sehr anspruchsvoll heraus. Aus seiner Sicht sollte eine AWS-Diagnostik der letzte Puzzlestein und nicht der Anfang des diagnostischen Prozesses sein. Sinnvolle diagnostische Abklärungen sind ab ca. 5 Jahren möglich und können ab 7 oder 8 Jahren auch komplexer gestaltet werden. Die Diagnostik setzt sich aus audiologischen Komponenten und einer umfassenden Wahrnehmungsdiagnostik zusammen. Allerdings lässt sich mit einer begrenzten Zahl von Verfahren bereits relativ sicher eine Auditive Wahrnehmungsstörung feststellen, deren genauer Umfang bzw. deren Ausrichtung anschließend in einer verfeinerten Diagnostik herausgearbeitet werden kann (beispielsweise Nickisch und Kiese-Himmel; Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsleistungen 8- bis 10-Jähriger).

Der kürzlich emeritierte Prof. Dr. Hintermair der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg spricht zum Thema Familie und Hörschädigung. Er beginnt seinen Vortrag mit der Feststellung, dass die Chancen für Kinder mit Hörbehinderungen aktuell so gut seien wie noch nie. Aufgrund des flächendeckenden Neugeborenen-Screenings werden Kinder mit hochgradigen Hörbehinderungen mittlerweile häufig sehr früh erkannt. Dieser enorme Fortschritt bedürfe aber auch einer guten Pädagogik, die die Familien in dieser Situation begleite. Bis etwa zum 6. Lebensjahr hat die Familie entscheidenden Einfluss auf die kindliche Entwicklung. Danach nehmen andere Personengruppen eine wichtige Stelle ein. In den 80er-Jahren waren noch die frühe Anpassung, die Defizitorientierung und vor allem der Lautspracherwerb maßgebliche Parameter der frühen Förderung. Mittlerweile liegen die Schwerpunkte der Arbeit mit Familien in den Bereichen Empowerment, Ressourcen und kindliche Bedürfnisse. Eine kooperative Form der Arbeit gemeinsam mit den Familien fuße auf einem an Stärken und Kompetenzen orientierten Weltbild. Wobei den Eltern eine erzieherische Primärverantwortlichkeit zukomme. Im Mittelpunkt jeglicher Bemühungen stehe immer die psychische Gesundheit der Kinder. All dies erfordere veränderte professionelle Grundhaltungen. Empowerment orientierte Pädagogik habe keine Fertigrezepte, rechne mit der Kompetenz von Eltern und Kindern und biete eine lebensweltorientierte Beratung. Ziel müsse es immer sein die Autonomie und Selbstwirksamkeit der Familie zu stärken, da man heute weiß, dass selbstbewusste Eltern kompetente Kinder haben. Dabei müssen auch soziale Stützsysteme immer im Blick behalten werden, um Ressourcen aller Art zu nutzen.

Den Tag schloss der traditionelle Festabend ab, der von einem wunderbaren italienischen Buffet der Hauswirtschaft auf Burg Feuerstein eingeläutet wurde und mit Tanz und viel guter Unterhaltung ausklang.

Der Tagungsdienstag steht traditionell im Zeichen der Technik: Im Viertelstundentakt präsentieren Hörgeräte- und CI-Hersteller sowie verschiedenste Dienstleister rund um die Versorgung von Menschen mit Hörbehinderung ihre Angebote, Entwicklungen und Neuerungen. Dabei sind in diesem Jahr neben den Firmen Advanced Bionics, Cochlear, MED-EL, Oticon, Phonak, Kind und WESTRA auch die Ausstatter mit Akustik- und Soundanlagen Gnadeberg, Humantechnik und Wagenknecht sowie der Online-Dolmetscher-Dienst VerbaVoice mit von der Partie.

Dr. Ulrike Stelzhammer-Reichhardt von der Firma Advanced Bionics stellt mit der Software „Sound Succes“ ein onlinebasiertes Hörtraining für Jugendliche vor, das für den deutschsprachigen Raum adaptiert wurde. Das Programm biete neben Sprachverständnis-Übungen auch Absehtraining. Es stehen sechs Sprecherinnen und Sprecher zur Auswahl, die deutsche, österreichische und schweizer Sprachklänge abdecken.

Ein Großteil der Referenten des Tages bietet am späten Nachmittag Workshops zur Vertiefung der Themen an, die im Lauf des Tages lediglich skizziert werden konnten. Somit hatten die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer die Möglichkeit nach Interesse und Bedarf offene Fragen zu klären. Sehr intensiv ließen sie sich auch am gesamten „Tag der Technik“ an den Ständen der Aussteller über die neueste Technik informieren und probierten diese Technik auch selbst aus!

Den Einstieg in den Mittwochmorgen gestalten Thomas Beckermann aus Göttingen und das Team Oliver Schneider und Nicole Brand aus Köln. Sie stellen jeweils die theoretischen Grundlagen für ihre Workshopthemen am Nachmittag bzw. am Donnerstagmorgen vor. Während Thomas Beckermann über den Einsatz digitaler Medien im Unterricht allgemein und in der Inklusion speziell referiert, sprechen Oliver Schneider und Nicole Brand zum Thema Teamarbeit und Teamberatung. Beide Vorträge widmen sich umfassend und informativ den jeweiligen Grundlagen der Themen.

 Thomas Beckermann geht in seinem Vortrag zunächst auf die unterschiedlichen Aspekte digitaler Inklusion ein und unterscheidet die Inklusion MIT digitalen Medien (also Dienstleistungen zur Unterstützung der Teilhabe) und die Inklusion IN die digitale Gesellschaft. Darunter versteht er Medien, die die Teilhabe an der Technik unterstützen. Besonderes Augenmerk richtet er auf die Funktion digitaler Medien als Werkzeuge im Unterricht, die Kooperation, Produktion, Kommunikation, Dokumentation und Präsentation ebenso unterstützen wie die Strukturierung. Dabei stellt sich für ihn aber immer auch die Frage nach dem Mehrwert beim Einsatz digitaler Medien.

Oliver Schneider und Nicole Brand führen in ihrem Vortrag in die theoretischen Grundlagen der Auseinandersetzung mit Teambildung und Teamarbeit ein. Neben grundlegenden Definitionen spüren sie der Tatsache nach, dass jeder in unterschiedlichen Teams arbeitet und dabei jeweils unterschiedliche Rollen und Aufgaben übernimmt. Im Weiteren zeigen sie Spannungsfelder der Zusammenarbeit auf und weisen auf Möglichkeiten hin damit umzugehen. Neben Niveaustufen der Teamarbeit stellen sie das Modell der Entwicklungsuhr nach Schley vor, mit dem sich unterschiedliche Phasen der Teamentwicklung darstellen und reflektieren lassen.

Zum Abschluss der Vortragsphase sprechen Prof. Dr. Schick aus Homburg/Saar sowie Dr. Schell aus Uchtspringe. Ihre Vorträge beschäftigten sich nochmals mit medizinischen Zusammenhängen.

Prof. Dr. Schick geht in seinem Vortrag auf die Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit in der audiologischen und vor allem der pädaudiologischen Arbeit ein. Auch er arbeitet nochmals interessante Aspekte des menschlichen Hörens heraus, bevor er sich schwerpunktmäßig mit der neuronalen Plastizität zu Beginn der Hörentwicklung und der Notwendigkeit der Organisation der Zellverbindungen beschäftigt. Sehr spannend ist sein Exkurs über aktuelle Forschungsergebnisse, die mittlerweile theoretisch erklären können, wie zerstörte Hörzellen nachgebildet werden können. Bis zu einer praktischen Nutzung dieser Erkenntnisse in der Therapie von Menschen mit Hörbehinderungen liege aber noch ein weiter Weg. Zum Abschluss macht Prof. Schick die Bedeutung interkollegialer Zusammenarbeit in der Diagnostik, Beratung und Versorgung von Familien mit Kindern mit einer Hörbehinderung eindringlich deutlich. Jeder Fall und jede Behandlung stellen sich vollkommen unterschiedlich dar und brauchen aus diesem Grund jeweils unterschiedliche Lösungen, die im Idealfall im Zusammenspiel der unterschiedlichen Fachgebiete entwickelt werden sollen.

Frau Dr. Schell geht zunächst auf die Tatsache ein, dass die Identitätsentwicklung auch für Menschen mit Hörbesonderheiten mit vielen Unsicherheiten verbunden ist. Die „Bastelexistenzen“ der Postmoderne mit aufgesplitterten Teilidentitäten stellen hohe Anforderungen an das Individuum. Menschen mit Hörbehinderung zeigen ein insgesamt erhöhtes Lebensrisiko für psychische Auffälligkeiten. Dem steht ein geringeres spezifisches, therapeutisches Angebot gegenüber, das in den seltensten Fällen wohnortnah verfügbar ist. Was dazu führt, dass psychische Erkrankungen häufig länger unerkannt bzw. unbehandelt bleiben. Als Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ -psychotherapie und -psychosomatik gibt sie zunächst einen Überblick über die, in ihrer Klinik behandelten Kinder und Jugendlichen mit Hörbehinderungen. Es werden im Schnitt 30 Patientinnen und Patienten im Jahr behandelt, deren Durchschnittsalter bei 14 Jahren liege. Im Schnitt werden mehr Jungen als Mädchen behandelt, wobei bei den Mädchen internalisierende Störungen im Vordergrund stünden und bei den Jungen expansive. In beiden Gruppen zeigt etwa die Hälfte depressive Symptomatiken. Abschließend stellt Frau Dr. Schell einzelne Fallbeispiele vor, die deutlich machen, wie breitgefächert die Krankheitsbilder und Symptomatiken auftreten. Deutlich wird auch, dass die Behandlungsansätze dementsprechend individuell sehr unterschiedlich gestaltet sein müssen.

Der Mittwochnachmittag sowie der Donnerstagvormittag stehen ganz im Zeichen der Workshoparbeit. Wobei sich das Angebot vom Mittwoch am Donnerstag wiederholt, um den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Möglichkeit zu geben zwei der vielfältigen Themen vertiefend zu bearbeiten.

Da die Autorin zum ersten Mal in den Genuss der Feuersteintagung kommen durfte ist ein Vergleich zu vorangegangenen Jahren nicht möglich. Insgesamt bleibt aber der Eindruck von dreieinhalb sehr intensiven Tagen, die sich breitgefächert vielfältigen Themenbereichen und -komplexen widmen, die allesamt im Zusammenhang mit der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Hörbehinderungen stehen.

Zur großen Freude der Autorin konnte sie am Ende des „Speeddating“-Technik-Tages am Dienstag den Hauptgewinn mit nach Hause nehmen und ihrem Schulleiter bei der Rückkehr mit einem neuen Roger-Touchscreen-Mic für die Freistellung vom Unterricht danken.

Das FeuersteinTeam – fast vollständig

Belinda Schlappa, Karlsruhe